Wie das Internet unser Denken verändert

Im Einbaum durchs Internet


Die Informationsflut des Netzes greift in unser Gehirn ein. Sie zwingt uns, radikal unsere Denkgewohnheiten zu ändern.

Von BEN MACINTYRE  28.07.2011 - https://www.faz.net/-gsi-14w3a

Im Jahr 1953, als noch nicht einmal Technikvisionäre vom Internet träumten, traf der
Philosoph Isaiah Berlin seine berühmt gewordene Unterscheidung zwischen zwei Arten von
Denkern, dem Igel und dem Fuchs: „Der Fuchs weiß viele Dinge, aber der Igel weiß eine
große Sache.“

Die Igel unter den Autoren, so Berlin, sehen die Welt durch das Prisma einer einzigen
übergeordneten Idee, während die Füchse hin und her flitzen und sich von der
größtmöglichen Vielfalt an Erfahrungen und Quellen inspirieren lassen. Marx, Nietzsche und
Plato waren Igel; Aristoteles, Shakespeare und Berlin selbst zählten zu den Füchsen.

Heute sind wir, die wir uns an dem anarchischen, allgegenwärtigen, grenzenlosen und
unkontrollierten Füllhorn namens Internet gütlich tun, alle zu Füchsen geworden. Wir surfen
durch Gedanken und Anregungen und plündern sie, nehmen auf, was uns gefällt, lassen alles
andere links liegen, speichern, verlinken, erjagen und sammeln Informationen, Unterhaltung
und unser Sozialleben. Apples neues iPad ist nur der jüngste Schritt auf dem Weg zur
Verschmelzung des menschlichen Geistes mit dem Internet. Diese Art zu denken bedroht
Ideologien unmittelbar. Denn in seiner äußersten Zuspitzung ist das Igeldenken wohl
tatsächlich totalitär und fundamentalistisch, was erklärt, warum die Regime in China und in
Iran so viel Angst vor dem Internet haben. Der Igel fürchtet die Füchse zu Recht.

Wie wir zu Füchsen werden

John Brockman hat auf seiner Website Edge.org, die sich mit neuen Ideen und Technologien
beschäftigt, kürzlich einer Vielzahl von Philosophen, Wissenschaftlern und Gelehrten eine so
einfache wie grundsätzliche Frage gestellt: „Wie hat das Internet Ihr Denken verändert?“. So
erstaunlich die Variationsbreite der Antworten war, stimmten doch die meisten Autoren
darin überein, dass das Netz die Art und Weise, wie wir Gedanken erfassen, wenn nicht gar
die Art und Weise, wie wir von diesen Informationen wiederum Gebrauch machen,
tiefgreifend verändert hat. Heute herrscht das Denken des Fuchses vor, im Guten wie im
Schlechten. Im schlimmsten Fall bedeutet dies kürzere Aufmerksamkeitsspannen,
schwächere Gedächtnisleistungen, bruchstückhafte, zusammenhanglose Argumentationen,
die Untergrabung des geistigen Eigentums und die Neigung, Anekdoten mit Tatsachen zu
verwechseln. Im besten Fall stellt das Internet eine geistige Revolution dar, die die freie
Zusammenarbeit so leicht macht wie nie zuvor, die den Zugang zu einem Meer von
Informationen dramatisch verbessert hat und den großen Speicher des Weltwissens nur
wenige Tastatur- und Mausklicks entfernt bereithält. Im Minutenrhythmus bringt der große
brodelnde Kessel des Cyberspace bemerkenswerte neue Rezepte hervor.

Der flinke und wendige Internetfuchs spart einerseits enorm viel Zeit, wenn er auf geistigen
Reisen, die früher Jahre gedauert hätten, ohne Zeitverzug von einem Ort zum anderen flitzt.
Andererseits vergeudet er auch ungeheuer viel Zeit, wenn er die Glitzermeilen des Netzes mit
ihrem Stars- und Sternchenklatsch, ihrer Pornographie, ihren anonymen Beschimpfungen
und Einzelheiten aus dem Leben anderer Leute entlangstreift.

Das Internet greift in nicht weniger als die Struktur unseres Gedächtnisses ein.
Gelehrsamkeit und Erfahrung, ein Wissensschatz, den ein Einzelner über Jahre hinweg
aufgebaut hat, sind heute weniger wert als die Fähigkeit, seine Aufmerksamkeit auf etwas zu
richten (zu „fokussieren“) und es aufzubereiten (zu „edieren“): Die Fähigkeit, der Maschine
Informationen zu entnehmen, hat die Fähigkeit, diese ohne Hilfsmittel zu erinnern, abgelöst.
So dachte ich etwa, ich hätte das Zitat über den Igel und den Fuchs im Kopf, aber ich hatte
nicht das Gefühl, dies mit Sicherheit zu „wissen“, bevor ich es nicht binnen weniger
Sekunden online gefunden hatte.

Ein ohrenbetäubender Chor von Tweets und Texten

Im internetgesteuerten Denken wird nicht prämiert, was man weiß, sondern was man
entdecken kann. Wir „gucken“ nicht Internet wie Fernsehen und nehmen es nicht in uns auf
wie den Inhalt eines Buches, sondern wir suchen es auf das hin ab, was uns nützlich
erscheint. Das setzt eine bestimmte Geisteshaltung voraus, und während die digitale Welt
unsere Lebenswelt immer weiter kolonialisiert, erobern Köpfe, die wie Füchse denken,
zunehmend die Vorherrschaft am Arbeitsplatz. David Dalrymple vom Massachusetts
Institute of Technology formuliert es so: „Im Endeffekt dürfte es heute wichtiger sein, wie gut
ein Mitarbeiter seine Aufmerksamkeit gezielt auf etwas richten kann, als wie sachkundig er
ist.“ Wie das Internet unser Denken anleitet, hängt freilich davon ab, ob wir es als einen
Pausenhof für Grundschüler, einen Ort kindlicher Kämpfe, seichter Unterhaltung, endlosen
Geschnatters und ungehemmter Egozentrik behandeln oder als ein Forum der höheren
Bildung, in dem unzählige Entdeckerfreuden und ungeahnte Möglichkeiten des gedanklichen
Austauschs auf uns warten. Die meisten von uns behandeln es natürlich als beides zugleich.
Das Netz zu lesen erfordert eine neue Form von Lesefähigkeit, nämlich das Vermögen, aus
dem Übermaß an Informationen das Hilfreiche von dem Sinnlosen oder bloß Ablenkenden
auszuscheiden. Viele Nutzer fühlen sich überfordert von dem Ansturm an Informationen, von
zu vielen Websites, zu vielen Nachrichten, einem ohrenbetäubenden Chor von Tweets und
Texten. Das Internetdenken besteht nicht nur aus Surfen und Sammeln, sondern auch aus
Auswählen und Wegwerfen. Der Internetfuchs weiß viele Dinge, doch muss er, während er
hungrig in jeder Ecke kleine Leckerbissen hinunterschlingt, zugleich wissen, was
unverdaulich ist – was ihn nährt und was ihn vergiftet.

Intellektuelle Sturzflut

Vor ein paar hundert Jahren war die Lese- und Schreibfähigkeit etwas Seltenes und äußerst
Wertvolles. Heute ist jeder, der über einen Internetzugang und eine Tastatur verfügt, ein
Verleger. Noch vor einer Generation musste Wissen aktiv ausfindig gemacht werden. Heute
werden wir mit Informationen bombardiert, von denen die meisten von geringer Qualität,
tendenziös oder schlichtweg irrelevant sind.

Die Grundmechanismen unseres Denkens sind noch immer die alten. Verändert hat sich
aber, wie wir auf Informationen zugreifen. Auch das schiere Ausmaß dieser Informationen,
die brillant sein können oder Spam, hat in einer Weise zugenommen, die inspirierend und einschüchternd zugleich ist. Morsches Holz abschlagen zu können ist vielleicht die wichtigste
Fähigkeit des Onlinegehirns: die Disziplin, seine Aufmerksamkeit gezielt einzusetzen sowie
Dinge zu filtern und zu hinterfragen.

Und hier kommt nun der indianische Einbaum ins Spiel. Dem Wissenschaftshistoriker
George Dyson zufolge hatten die Nordwestpazifik-Indianer zwei sehr verschiedene
Methoden, Boote zu bauen. Die Aleuten, die auf baumlosen Inseln lebten, bauten Kajaks aus
Strandgut, indem sie Felle auf einen Rahmen aus Treibholz spannten. Die Tlingit hingegen
fällten große Bäume und höhlten sie zu Kanus aus, indem sie das überschüssige Holz
herausschlugen und -brannten.

„Früher waren wir Kajakbauer und haben Bruchstücke von Informationen gesammelt, wo wir
sie fanden“, schreibt Dyson. „Heute müssen wir lernen, zu Einbaumbauern zu werden und
unnötige Informationen zu verwerfen, um die verborgene Gestalt des Wissens freizulegen.“
Und so darf, während die intellektuelle Sturzflut des Internets mit jedem technischen
Fortschritt reißender wird, nur ein Geschöpf darauf vertrauen, sich weiterhin über Wasser
halten zu können: der Fuchs, der im Einbaum paddelt.

Aus dem Englischen von Michael Adrian. Der Autor ist Kolumnist der „Times“. © „Times“
Quelle: F.A.Z.

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